„Das Volkszählungsurteil“ – Wenn Datenschutz aber mal so richtig reinkickt

Die Vorgeschichte

Es begab sich Anfang der 1980er Jahre, dass sich das ganze deutsche Volk schätzen lassen sollte. Und wenn die Deutschen etwas wissen wollen, dann machten sie es damals noch sehr gründlich. Sie erließen ein Volkszählungsgesetz und planten die Totalerhebung. Verwaltungsmitarbeiter sollten zu allen Menschen in Deutschland gehen und mal durchzählen. Aber eben nicht nur das. Wenn diese Erhebungsbeamten schon so nett beim Zählen waren, dann konnte man ja gleich noch ein paar weitere Fragen stellen, die den Staat so interessierten. Nichts, was nicht der typische Social-Media-Nutzer heute schon in der Profilbeschreibung hätte. Aber damals wurde man schon fuchsig, wenn es um Informationen zum genutzten Verkehrsmittel oder die Entfernung zur Arbeitsstelle ging.

Der Staat war das Unterfangen der Volkszählung akribisch angegangen. Immerhin 600.000 Zählbeauftragte sollten den Bürger in 25 Millionen Haushalten in Westdeutschland besuchen. Viel Papier war zum Beschreiben vorbereitet worden. So viel, dass man sich im Vorfeld ernsthafte Sorgen um die Deckenbelastung einiger Behörden machte. Und damit der Bürger nicht unbeobachtet Schindluder beim Ausfüllen der Zettel machte, war ein Zurücksenden der Fragezettel etwa per Post durch eine Größenwahl für die Zettel ein ganz kleines Bisschen über DIN-A-4 erschwert worden. Gerade so viele Millimeter wurden draufgegeben, dass ein entsprechender Umschlag nicht mehr passte. Pfiffig …

Um sich in seinem behördlichen Tun nicht unnötig Stress zu machen, hatte man die Datenschutzbeauftragten aus dem Ganzen lieber rausgelassen. Wie der Spiegel berichtete, fanden Aufkleber wie „Meine Daten gehören mir“ oder auch „Betteln, Hausieren und Volkszählen verboten“ reißenden Absatz. Und wenn sich doch ein Zählbeauftragter zu einem wagte, dann kündigten nicht wenige an, bei der Ausfüllung der Zettel fantasievoll und kreativ vorzugehen. Dabei war die Grundidee gar nicht so verwerflich. Wollte man doch die Datenbanken der Einwohnermeldeämter aktualisieren, Karteileichen entfernen und dabei auch noch einige Informationen bekommen, um etwa Verkehrsentscheidungen bedarfsgerecht fällen zu können. Auf der Gegenseite entstanden Ängste, dass sich der Bürger allzu nackig machen würde. Psychologisch hilfreich war da sicherlich, dass der Roman von Orwell „1984“ mit seinem Big Brother zufällig genau ins folgende Jahr vom Autor datiert worden war. Immerhin mehr als 500 Verfassungsbeschwerden wurden eingereicht. Der Bürger war angezündet, wütend und streitlustig. Und er wollte nicht zu einer Nummer degradiert werden. Sah das Verfahren doch eine achtstellige Kennung vor, die drohte als Personenkennzeichen die Verknüpfung mit anderen Daten zu erleichtern. Eine Diskussion, die auch heute noch wieder sehr aktuell ist. Will man doch endlich das Behördenwesen auf die digitale Ebene heben und Anträge so leicht wie einen Einkauf bei Amazon gestalten. Warum dann Daten, die der Staat eh hat, erneut eingeben? Wäre dafür eine übergreifende Kennung nicht hilfreich, wie es in vielen anderen Ländern die Regel ist? Oder gibt es auch jetzt noch Gründe, da vorsichtig zu sein? Das ist ein anderes Thema für viel viel später in diesem Buch.

Wo waren wir? Ach ja, der Deutsche ging also 1983 auf die Straße und fand diese ganze Volkszählung in weiten Teilen der Bevölkerung ziemlich uncool. 52% der Bundesbürger waren laut einer ZDF-Umfrage kritisch und 25% wollten erst gar nicht mitmachen. Plötzlich war der Datenschutz in aller Munde. Ganz im Gegensatz dazu noch die Situation 13 Jahre vorher, als in Nordrhein-Westfalen bei einer Volkszählung gerade mal 23 Rückmeldungen der Bürger Grund für ein Bußgeldverfahren lieferten. Ganz selbstlos war auch der Bürger von 1983 wohl bei seiner neuen Liebe für den Datenschutz nicht. Schließlich sollten u. a. Gemeinden die Befugnis erhalten, einen Abgleich ihrer Register mit den Umfrageergebnissen vorzunehmen. Eigener kreativer Umgang mit Meldungen zum Wohnen oder Vermieten an die Behörden inkl. steuerlich relevanter Daten konnte da auch finanzielle Anreize schaffen, den Datenschutz gerade bei dieser Volkszählung unheimlich wichtig zu finden … der Menschenrechte wegen natürlich.

Auf der Gegenseite war der Staat, der immerhin bis zu 10.000 Mark Strafe androhte, sollten unvollständige oder unrichtige Angeben gemacht werden. Den Staat zu ärgern, war aber auch sehr einfach. Es reichte schon aus, statt eines Bleistifts einen Füllfederhalter zu verwenden. Waren doch die Lesegeräte zur Auswertung nur auf Graphitspuren ausgelegt. Damit hatte man übrigens schon den echten Hanseaten zurückgelassen. Schließlich war es rund um Finkenwerder und Blankenese üblich, alles Wichtige mit dem Familienfüller auszufüllen – ein Umstand, der viele Jahre später auch den zarten Versuchen einer elektronischen Wahl der Bürgerschaft einen Knüppel zwischen die Beine warf.

Übrigens war damals für Gegner des Genderns (hätte es sie schon gegeben) und Befürworter der klassischen Familie die Welt noch in Ordnung. Erfasste doch das Volkszählungsgesetz in § 2 Nr. 4 die „Beteiligung am Erwerbsleben“ und dazu gehörte neben „Schüler, Student“ auch die „Eigenschaft als Hausfrau“. Der Hausmann wartete noch auf seine Anerkennung durch die Gesellschaft.  

Der damalige Bundesdatenschutzbeauftragte Hans Peter Bull sah sein Heil bei der Kritik an der ganzen Aktion im Gesetz. Verbot dieses doch im Rahmen des Statistikgeheimnisses eine De-Anonymisierung unter Strafandrohung. Die Welt konnte so einfach sein. Warum ist man in anderen Bereichen noch nicht auf die Idee gekommen, Unerwünschtes einfach zu verbieten? Vielen Landesdatenschutzbeauftragten reichte das auch nicht aus. Und auch nicht einer Gruppe Männer im beschaulichen Karlsruhe.

2. Das Urteil

Das Bundesverfassungsgericht verschaffte allen, deren Fetisch der Datenschutz war, ein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk. Am 15. Dezember 1983 erblickte das Recht auf informationelle Selbstbestimmung das Licht der Welt – eine Welt, die danach nicht mehr dieselbe sein sollte. Naja, zumindest die deutsche Welt. Weite Teile von Europa mussten bis 2018 warten, bis sie diese Errungenschaften in vollem Umfang genießen durften. Obwohl das eigentlich schon 1995 der Fall war, was aber kaum einen interessierte. Das schonmal als kleiner Spoiler.

Lust auf ein wenig Bundesverfassungsgericht-Porn? Dann hier der entscheidende Leitsatz: „Unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung wird der Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 (Grundgesetz) umfasst. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.“

Die beim Bundesverfassungsgericht haben es einfach drauf, wenn es darum geht, einfache Dinge in wichtiger Sprache zu verpacken. Dabei ist es eigentlich ganz einfach. Der zentrale Satz steht unter Randnummer 146 des Urteils: „Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß.“ Anders gesagt: Jeder soll das Recht haben selbst zu entscheiden, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn weiß. So einfach kann es sein, auch wenn ich in den Satz gerne mehr Kommas gepackt hätte. Und tatsächlich hilft einem dieser Satz eigentlich in allen Lebenslagen – zumindest denen, in denen man sich mit Datenschutz beschäftigt. Jeder soll gefälligst selbst darüber entscheiden, was andere über ihn wissen dürfen. Möchte ich der verschlossene mysteriöse Nachbar sein, der alles zwischen Geheimagent und Massenmörder sein kann? Mein Ding. Will ich im Netz mein Leben ausleben. Auch meine Entscheidung. Muss ich dafür gegenüber anderen Rechenschaft ablegen? Nö. Mein Leben, meine Entscheidung. Wobei ganz so einfach ist es dann natürlich doch nicht, sonst hätte ich dieses Buch auch als Bierdeckel herausbringen können. Wie bei jedem guten Thriller startet die Geschichte harmlos, bis dann die spannungsgeladenen Wendungen kommen. Ein echter Fitzek.

Das Bundesverfassungsgericht war erstaunlich modern und hatte Big Data lange, bevor es Modewort einer CeBIT (Gott sei ihrer Seele gnädig) geworden war, für sich erkannt. So heißt es unter Rn. 150, dass es unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung kein “belangloses” Datum mehr gebe. Zwei Dinge gilt es daraus zu lernen. Zum einen ist die Einzahl von „Daten“ tatsächlich „Datum“ und zum anderen können selbst die banalsten Informationen über mich zu unliebsamen Rückschlüssen führen. Das Schreckensgespenst des Bundesverfassungsgerichts in diesem Zusammenhang sind die „der Informationstechnologie eigenen Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten“. Aus großen Datenmengen folgt große Verantwortung. Das hätten schon die Jedi gewusst, hätten sie bei diesem Urteil eine Erschütterung der Macht bemerkt. Beispiel gefällig? Der Umstand, dass Sie gerade jetzt dieses Buch lesen, ist ziemlich banal. Nun gut, vielleicht hätten Ihre Vorgesetzten da etwas Seriöseres für Ihre Fortbildung erhofft. Aber nichts, wofür man sich schämen müsste. Nehmen wir nun noch ein paar weitere banale Daten dazu, wie zum Beispiel die Uhrzeit, zu der sie lesen. Daraus kann man dann auch ihre Lesegeschwindigkeit leicht errechnen (nutzen Sie einen eBook-Reader wie den Kindle, so bekommen sie das sogar direkt auf Wunsch angezeigt). Beobachten wir das dann über einen längeren Zeitraum, so wird es spannend. Nimmt die Lesegeschwindigkeit ab? Oh oh, Doktor Google findet da sicherlich schnell eine passende tödliche Krankheit zu. Oder lesen Sie immer mehr? Na, da hat wohl jemand zu viel Freizeit? Lesen Sie immer mal wieder mitten in der Nacht? Senile Bettflucht wäre da noch das Harmloseste, ich (bzw. der Algorithmus, der sich der Daten fürsorglich angenommen hat) gehe/geht da eher von Schlaflosigkeit wegen psychischer Probleme aus. Nicht gut für Beziehung, Job und Krankenversicherungstarif.

Nicht alles davon wird nun den Weg ins Rechenzentrum finden, zumindest wenn Sie noch ganz traditionell das gedruckte Buch für Ihre lasterhaften Leseorgien heranziehen. Oder haben Sie was zu verbergen, weil für Ihre zwanghafte Anonymität Bäume sterben müssen? Aber banal ist es nun auch nicht. Alles und jedes Datum kann im Zusammenspiel mit den Massen anderer Daten zu fast allen Rückschlüssen herangezogen werden. Und das wusste man schon 1983! Das war das Jahr, als Hochleistungsrechner eine Rechenleistung von gerade mal bis zu 800 Megaflops hatten. Schon das iPhone 6 hatte vor einigen Jahren 120 GIGA(!)Flops und die Playstation 5 bringt es auf 10280 Gigaflops.

Apropos Flop: auch wenn einige Regelungen des Volkszählungsgesetzes durchgewunken wurden (etwa hinsichtlich der Verwendung der Daten für die Forschung), so war es doch ein überwiegender Sieg für die Kläger. Viele Vorschriften des Gesetzes verstießen gegen das neue „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“. Und das Bundesverfassungsgericht wäre nicht das Bundesverfassungsgericht, würde es nicht irgendwie das Grundgesetz dabei mit heranziehen. Und wenn es wie hier Menschen betrifft, dann passt eigentlich immer auch die Menschwürde aus Artikel 1 des Grundgesetzes. Aber das wäre doch ein wenig billig. Bei etwas so Wegweisendem und Neuen bekommt man gleich zwei Grundrechte als Begründung zum Preis für ein Neues. Sicher ist sicher. Und da nahm man dazu noch Artikel 2 Abs. 1 des Grundgesetzes, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Wer will bei so viel Menschenwürde und Persönlichkeit widersprechen. Und da damit Grundrechte verletzt wurden, konnte das Bundesverfassungsgericht einige der Vorschriften des Volkszählungsgesetzes als verfassungswidrig einstufen. Die waren dann gleich mal nichtig und der Rest konnte eh nicht alleine bestehen bleiben. Sieg für den Datenschutz!

1987 kam es dann zum zweiten Versuch einer Volkszählung. Zentrale Änderung war, dass die personenbezogenen Angaben getrennt von den Fragebögen blieben, um die Anonymität zu erreichen. Wobei der Kenner weiß, echte Anonymität gibt es (fast) gar nicht. Aber man hat sich zumindest bemüht, dass auch aus den Antworten beim Fragebogen nicht allzu einfach auf den Menschen dahinter geschlossen werden konnte. Übrigens gab es auch gegen dieses Vorgehen Proteste, u. a. von den Grünen, die damals relativ frisch mit im Bundestag dabei waren. Zu behaupten, dass nun auch hieran irgendwie Habeck Schuld sei, ist dann aber in Anbetracht der vergangenen Zeit, doch etwas übertrieben. Immerhin fand man durch die Volkszählung plötzlich eine Million mehr Erwerbstätige in Deutschland. Hatten die doch gearbeitet und keiner hat es mitbekommen. Allerdings macht das Sinn, schließlich fand man auch heraus, dass es in Wirklichkeit ca. eine Million weniger Wohnungen gab. Die Erwerbstätigen konnten also quasi nichts anderes machen als zu arbeiten.

Und da der Begriff Volkszählung dann noch ziemlich negativ belastet war, machte man es im Folgenden wie eine gute Marketingabteilung. Weist Dir Stiftung Warentest Schadstoffe im Produkt nach, nenne es um. Und so wurde aus der Volkszählung der Zensus und Schuld war dann 2011 nicht Merkel oder die SPD, sondern die EU, die das ja wollte. Noch unschuldiger und süßer ist da nur noch der „Mikrozensus“, in dem regelmäßig Stichproben gezogen werden. Mehr würde die Bevölkerung wahrscheinlich eh nur verunsichern …

Damit verlassen wir das weite Feld der Volkszählungen. Aber das Bundesverfassungsgericht hatte noch so einiges im Köcher. Doch zunächst müssen wir uns der EU zuwenden. Denn die entdeckte mit entspannter Verzögerung in den 90er Jahren den Hype um den Datenschutz und wollte auch ihren Teil des Kuchens.

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